Alljährlich am Tag nach Allerheiligen machen wir einen Spaziergang am Wiener Zentralfriedhof. Zu Allerheiligen, am 1. November, ist uns dort zu viel „Publikumsverkehr“. Aber am nächsten Tag, zu Allerseelen, kurz vor Einbruch der Dunkelheit herrscht dort eine wunderbar ruhige, meditative Atmosphäre.
Die wenigen Menschen, die noch unterwegs sind, verlieren sich im riesigen Areal des Friedhofs, überall brennen noch die roten Grabkerzen vom Vortag und leuchten in den anbrechenden Abend hinein.
Die untergehende Sonne bringt die rot und golden verfärbten Blätter der alten, großen Bäume in deren Kronen noch einmal zum Aufleuchten. Unter den Schritten raschelt das herbstliche Laub. Ab und zu huscht ein Eichhörnchen über den Weg, die Krähen suchen sich unter lautem Krächzen ihr nächtliches Schlafquartier und ein paar unermüdliche Singvögel zwitschern ihr Abendlied.
Der Wiener Zentralfriedhof, der nicht wie der Name irreführenderweise behauptet, im Zentrum, sondern am äußersten Stadtrand Wiens liegt, ist der zweitgrößte Friedhof Europas. 1874 wurde er als erster interkonfessioneller Friedhof seiner Bestimmung übergeben. Seither fanden auf dem 2,4 ha großen Areal ca. drei Millionen Menschen aus unterschiedlichen Konfessionen ihre letzte Ruhestätte. Armengräber sind dort ebenso zu finden wie richtig prunkvolle neugotische Grabhäuschen, namenlose Gräber genauso wie zahlreiche Ehrengräber bedeutender Künstler und Gelehrter.
Ich liebe ganz besonders den „alten jüdischen Friedhof“. Die Gräber in diesem Teil stammen überwiegend aus der Zeit gleich nach der Eröffnung. Bereits 1920 war dieser Teil des Areals „belegt“. Seither wurden und werden die Angehörigen des jüdischen Glaubens im „neuen jüdischen Friedhof“ beigesetzt.
Der „alte jüdische Friedhof“ wurde gegen Ende des zweiten Weltkriegs durch Fliegerbomben teilweise zerstört. Viele Nachfahren derjenigen, die dort ruhen, wurden getötet, einige haben es rechtzeitig geschafft, auszuwandern. So sind die meisten der Gräber in diesem Teil dem Fortschreiten der Zeit ausgeliefert. Die Grabsteine sind umgestürzt, die Inschriften nicht mehr lesbar, Grabbegrenzungen rosten langsam weg oder brechen durch die nachgebende Erde nach und nach ein. Efeu und wilder Wein überwuchern die Gräber.
Kleine Zypressen, Thujen oder Eiben, einst als Symbole für den Sieg des Lebens über den Tod auf die Gräber gepflanzt, haben sich zu mächtigen Bäumen entwickelt und sich tief im Erdreich verwurzelt. Buchsbäume, nicht mehr geschnitten, sind zu gewaltigen Sträuchern herangewachsen. Einige Rosenstöcke haben ungeahnte Dimensionen erreicht. Aber auch die natürliche Vegetation hat sich ihren Weg gebahnt: Riesige Brennnesselfelder wuchern zwischen den Gräbern, nur ab und zu werden sie gemäht.
Wenn man über den jüdischen Friedhof spaziert, kann man viel von der einstigen Blüte der jüdischen Kultur in Wien sehen: Reiche Kaufleute und Bankiers mit protzigen Gräbern, viele Wissenschaftler und Künstler, treue Staatsdiener (die nicht für ihre Treue belohnt wurden), wohlklingende Namen, hebräische Inschriften, wunderschön – lesen kann ich sie leider nicht. Aber auch viele schlichte Gräber der ärmeren jüdischen Bevölkerung.
Bedrückend, auf wievielen Grabsteinen nur ein Vermerk über das vermutete Todesjahr irgendwann während der Schrecken des zweiten Weltkrieges zu finden ist, auf wievielen man als Sterbeort Auschwitz, Treblinka, Buchenwald und ähnlich bekannte KZs findet. Ein Gang durch die österreichische Geschichte.
Aber auch ein Ort des Lebens: Der riesige Friedhof beherbergt eine sehr vielfältige Fauna. Hier wohnen jede Menge Eichhörnchen, die zum Teil auch recht zutraulich sind. Die vielen Mäusen dienen den Turmfalken, Mardern und Dachsen als Nahrung. Ringelnattern und zahlreiche Frösche sind ebenso anzutreffen wie Hasen und Rehe, die sich über die vielen immergrünen Pflanzen ganz besonders im Winter freuen.
Da unsere Familiengräber einige hundert Kilometer entfernt sind, entzünden wir als Zeichen unseres Gedenkens an verstorbene Familienmitglieder immer ein Kerzlein an einem namenlosen, vergessenen Grab.
Dass die Wiener ein ganz besonderes Verhältnis zum Tod haben, davon zeugen unzählige Lieder, Filme und Romane. Aber auch die Tatsache, dass der Zentralfriedhof zu den größten Naherholungsgebieten der Wiener gehört. Der Hang der Wiener zur Morbidität gilt als Besonderheit der Wiener Seele. Leben und Tod stehen hier in inniger Verbindung, viele Heurigenlieder handeln vom Tod, schnell kann die Stimmung umschlagen zwischen Lebenslust und Todessehnsucht. Deutlich wird dies auch an den riesigen Eingangstoren zum Friedhof: Hier gibt es Würstelstandln, einige Glühwein- und Punschstandl, Maronibrater – man kann ganz gemütlich auf das Wohl der Verstorbenen trinken und sich stärken, bevor oder nachdem man ihren Gräbern einen Besuch abstattet.
André Heller hat den Wiener Zentralfriedhof einst nicht ganz unzutreffend als „Aphrodisiakum für Nekrophile“ bezeichnet.